Ein Wiener Weihnachtsmärchen für Erwachsene
Es war einmal, vor langer Zeit, es war auf alle Fälle Heilig Abend und Ernstl saß auf seinem Lieblingsplatz, einem Bankerl im Stadtpark.
Er hatte nie besonders viel Glück gehabt in seinem Leben, der Ernstl, das hatte schon damit begonnen, dass seine Eltern ihn gar nicht gewollt hatten, noch ein Kind, nachdem die anderen schon fast aus dem Haus waren. Und dann sein Vater, der dem Alkohol mehr zugeneigt war als seiner Frau und ein Zuhause, in dem Geschrei und gsunde Watschen an der Tagesordnung waren. Und dann die Schule, das war auch so etwas gewesen. Er war eher langsam, der Ernstl, nicht dumm, aber er hatte oft Pech beim Denken und er brauchte eben seine Zeit, zu viel Zeit, wie die Lehrer meinten. Und so schaffte er gerade mal den Pflichtschulabschluss, mit viel Schweiß, Tränen und Demütigungen. Danach aber, da ging es bergauf. Er ist Maurer geworden, hat ordentlich gehackelt und geschuftet. Und er war mit der Lehre noch nicht fertig, da kam der schönste Tag, an den er sich erinnern konnte.
Er war auf einem Festl gewesen, irgendein Geburtstag von einem Freund, und wie er da so mit seiner Flasche Bier herumgestanden war, da hat er sie gesehen. Ein Bombenweib. Fesch, ordentlich gebaut, mit blond gefärbten Haaren wie die Pamela Anderson. Er hat gar nicht anders können, als sie anstarren. Und dann, dann hat sie‘s gemerkt. Und hat ihn angelächelt. So ein Bombenweib-Lächeln, das kann Angst machen. Vor allem so einem wie dem Ernstl, den im Leben noch nicht viele angelächelt hatten. Fast hätt er sich umgedreht und wär davon gerannt, aber dann hat er auch gelächelt. So ein bisserl schief und zittrig. Und dann standen die beiden eine Weile so da, blöd grinsend, es war schon peinlich. Dann hat sie was gesagt – es war nichts Gescheites, aber wenn zwei sich schon so angelächelt haben, dann ist das ziemlich wurst. Und dann hat der Ernstl was gesagt, das war auch nicht gescheiter. Aber bald sind sie nebeneinander auf der Couch gesessen und da war‘s dann schon ganz egal, was sie sagen, weil da haben dann schon mehr ihre Hände und Zungen gesprochen.
Und wie‘s so ist, wenn zwei sich anlächeln und ein bisserl was getrunken hatten und jung sind – neun Monate später war der Bernhard auf der Welt.
Aber auch das war fein, das hat dem Ernstl eigentlich voll getaugt, seine eigene Familie. Nur dass die Babsi nie zufrieden war – hat er viel gearbeitet, um ihr und seinem Sohn was bieten zu können, war es ihr nicht recht, weil sie die ganze Arbeit mit dem Baby hatte. Hat er im Winter stempeln gehen müssen, war es ihr auch nicht recht, weil kein Geld da war. Und der Bernhard schrie. Viel. Und laut. Und der Ernstl, der bemühte sich, nicht wie sein Vater zu werden, er hat sich wirklich bemüht. Aber bemühen und tun, das ist halt zweierlei.
Und irgendwann ist die Babsi halt ausgezogen, mit dem Bernhard. Und ab da ging es bergab. Den Bernhard hat er kaum sehen dürfen, nur zahlen für ihn. Und weils einsam war am Abend, da bliebs halt nicht bei einem Bier. Und irgendwann war dann die Sache mit seiner Bandscheibe, und er war lange im Krankenstand, fühlte sich noch unnützer. Und irgendwann danach verlor er seinen Job, da haben sie ihn in eine Umschulung gesteckt, und da flog auf, dass er es mit dem Lesen und Schreiben nicht so gut konnte, das war schlimm, da wollte er gar nicht mehr hin und verlor auch noch die Arbeitslose. Er wusste nicht, wie er die Alimente zahlt und die Miete und nun saß er da, im Stadtpark. Nachts schlief er seit einenhalb Jahren meist in irgendwelchen U-Bahnstationen, oder manchmal in der Gruft, dem Obdachlosenheim.
Voriges Jahr war er auch Heilig Abend dort gewesen, aber das war noch schlimmer, als allein am Bankerl. Hier im Stadtpark konnte er zumindest so tun, als wär heut ein ganz normaler Tag. In der Gruft hatte er dauernd dran denken müssen, dass die Babsi und der Bernhard nun mit Babsis neuem Freund in dessen Gemeindebauwohnung saßen, mit Tannenbaum und Geschenken.
Hier hatte er seine Ruhe. Finster wurde es schon, ringsum in den Häusern brannten Lichter in den Fenstern. Es waren zwar keine weißen Weihnachten, aber kalt war es ordentlich. Ernstl hüllte sich in seinen zerschlissenen Schlafsack, doch die feuchte Luft kroch ihm trotzdem unters Gewand. Und als er so die Lichter in den Fenstern sah, da musste er erst recht an Babsi und Bernhard denken. An das Leben, das er hatte haben wollen.
Und da beschloss er, etwas zu tun. Etwas, das man nur tut, wenn man Weihnachten einsam auf einem Bankerl sitzt und grad 15 erbettelte Euro im Sackerl hat.
Er würde sich von den 15 Euro soviel Alkohol kaufen wie möglich. Und dann würde er zur Reichsbrücke gehen und runterhupfen, in die kalte Donau. Weil an das erinnerte er sich noch, wie er ein 12-jähriger Pimpf gewesen war, da war er mal vom Zehnmeter-Brett gesprungen, und das war einfach toll gewesen. Er hatte das Gefühl gehabt, er würde fliegen. Und da er nicht damit rechnete, dass man ihn in den Himmel einließ, so wollte er zumindest davor ein bisserl sich wie ein Engerl fühlen. Und mit dem kalten Wasser der Donau, da würd er wohl die Hitze in der Hölle am Anfang richtig angenehm finden.
Also tat der Ernstl, was ein Sandler sonst nicht tut. Er ließ seinen Schlafsack und die zwei Plastiksackerl mit seinem ganzen Besitz einfach auf der Parkbank liegen und lief los, um noch rechtzeitig im Supermarkt zu sein. Rechtzeitig, ehe der Supermarkt zusperrte und ehe er es sich anders überlegte.
Im Supermarkt plärrte Jingle bells aus den Lautsprechern. Viele Leute waren nicht mehr da. Ernstl eilte zum Gang mit den Spirituosen. Heut wollte er nicht den grauslichen Wein aus dem Tetrapack, zum Abschied schon was Besseres.
Und wie er so in den Gang einbog, da sah er sie. Sie stand am unteren Ende des Ganges, bei den Regalen mit dem Baileys und dem Eierlikör. Eine rundliche Figur, dunkle Trainingshose, die sie gewiss nie zu einem Training getragen hatte. Ernstl konnte nicht anders, es war wie damals auf dem Festl mit Babsi, er konnte sie nur anstarren. Die Art, wie sie den Zeigefinger an die Lippen gelegt hatte, um besser nachzudenken. Irgend etwas war an dieser Geste, das ihn berührte.
Da bemerkte sie, dass er sie ansah. Ernstl rechnete mit dem üblichen gehässigen Blick, so von oben herab, eine Mischung aus Ekel und Mitleid. Aber sie lächelte ihn an. Schüchtern. Ernstl lächelte zurück, schief. Da trat ein Mann zwischen den beiden ans Regal, grauer Anzug, griff zu einer Flasche Eristoff, drehte sie in seinen Händen, stellte sie zurück, nahm eine andere. Es dauerte keine fünf Sekunden, doch als der Mann weg war, war sie es auch. Ernstl ergriff Panik. Er suchte die Gänge ab. Da sah er sie wieder, auf die Kassa zustrebend, eine Flasche Eierlikör in der Hand.
15 Euro hatte er für einen letzten guten Rausch. Doch er eilte zur Süßwarenabteilung, stieß gegen eine Verkäuferin, entschuldigte sich, suchte die Regale ab. Griff nach einer Bonbonniere, likörgefüllt, eilte zur Kassa, sie war schon durch, warf das Geld hin, egal um die 2,15 Retourgeld. Beim Eingang des Supermarktes holte er sie ein, umrundete sie, hielt ihr die Bonbonniere entgegen. Hoffentlich dachte sie nicht, er hätte sie gestohlen.
Sie sah auf die Schachtel. Auf ihre Schuhe. Auf die Schachtel. Auf Ernstl. Lächelte.
”Wolln wir teilen?“
Ernstl war verwirrt. ”Die Bonbonniere?“
”Weihnachten“, meinte sie.
Und sie nahm ihn mit in ihre Gemeindebauwohnung.
Während Ernstl zum ersten Mal seit sehr langer Zeit eine heiße Dusche nahm, räumte Anna rasch die zwei Packungen Schlaftabletten von der Kommode, die sie heute hatte nehmen wollen, nach dem Eierlikör.
Und als Ernstl dann frisch geduscht neben ihr saß, da sah er richtig adrett aus, rasiert und in Annas rosa Flausch-Bademantel. Und sie saßen lange nebeneinander, teilten die Pralinen und den Eierlikör, zündeten ein Kerzerl an und plauderten. Sie hatten einander viel zu erzählen.
Und da wusste Ernstl, dass Weihnachten war. Dass auch einer wie er ein Engerl werden konnte. Und dass man nicht erst sterben musste, um ein neues Leben zu beginnen.
(MW)
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