Auch das Christkind hat's nicht leicht
Es war kurz vor Weihnachten und das Christkind stand vor seinem himmlischen Briefkasten und blickte frustriert hinein. Zwei Briefe. Zwei! Und das mitten im Advent! Wo waren die Zeiten, als es himmlische Heerscharen brauchte, um seine Post zu transportieren und aufzuarbeiten? Und nun? Ein ”Liebes Christkind, ich wünsch mir Alles zu Weihnachten, oder lieber noch Alles und ein Pony.“ und ein Werbebrief von Amazon, der dem Christkind günstige Konditionen versprach, sollte es seine Einkäufe über das Internet tätigen.
Verzweifelt schmiss sich das Christkind auf die Wolke zu seinen Füßen und tobte und schrie, wie das kleine Kind, das es rein äußerlich ja war, trotz seiner 2000 Jahre.
Der Lärm lockte Gabriel an, der sich immer ein wenig verantwortlich für das Wohlergehen des Christkinds fühlte. Auf seine Frage, was denn geschehen sei, erzählte ihm das Christkind von seinem Elend.
”Niemand liebt mich! Hier, zwei Briefe, statt Tausende! Warum schreiben die Menschen nicht mehr?“
Gabriel stotterte ein wenig herum, meinte was von die Post heutzutage und Email-Vorlieben, doch als er den bösen Blick des Christkinds sah, war ihm klar, dass er mit Lügen nicht weiterkam.
”Na gut, sie schreiben schon. Aber eben nicht an dich.“
Das Christkind war entsetzt. Seit 2000 Jahren rackerte es sich jedes Jahr ab, schleppte Geschenke, die Jahr für Jahr mehr wurden, hinterließ Engelshaar an Christbäumen, dass es nach Weihnachten beinahe eine Glatze hatte – und das war der Dank? Die Menschen hatten einen anderen?
”Wer ist es? Fortuna mit ihrem unendlichen Füllhorn? Die Heiligen Drei Könige?“
”Nein, kein Gott, kein Heiliger. Ein dicker Mann mit weißem Bart.“
Das Christkind blickte Gabriel fassungslos an. ”Ein dicker Mann mit Bart? Soll das heißen, ich nehme seit Ewigkeiten Hormone, um klein und kindlich zu bleiben, und dann läuft mir ein alter Mann mit Bart den Rang ab? Das ist bitter! Was hat er zu bieten, was ich nicht habe?“
Gabriel erzählte ihm von den Geschenken, die der Weihnachtsmann in noch viel größerer Zahl brachte – oder bringen ließ, denn er hatte diese Aufgabe an Eltern, Großeltern und den Einzelhandel abgeschoben.
Nun, das war ja klar gewesen. Geschenke! Gottes Krone der Schöpfung hatte immer schon ein Faible für Materielles gehabt, man denke nur ans goldene Kalb. Deswegen war das Christkind damals ja so dagegen gewesen, dass Gott die Heiligen Drei Könige mit Geschenken schickte, war ja klar gewesen, dass die Menschen das missverstanden. Dabei war es doch so einfach – Gold, als Symbol für den König, Weihrauch als Huldigung der Göttlichkeit und Myrrhe, das Einbalsamierungsmittel, als Andeutung auf den Tod. Aber wann hatten die Menschen je hinter das Vordergründige geblickt... Es seufzte. Aber gut, mit Geschenken konnte es konkurrieren, musste es halt noch mehr schleppen. Maria hatte ihm voriges Jahr eh ein Bruchband geschenkt.
”Noch was?“
”Naja, und er hat Rentiere. Sehr süß, macht sich werbetechnisch sehr gut, vor allem das eine mit der roten Nase.“ Gabriel begann zu summen. ”Rudolph, the red nosed ... Ja, und für die Postromantiker hat er einen Truck, voll mit koffeinhaltiger Limonade, wenn der in die Stadt kommt, zucken die Leute aus.“
Das Christkind kratzte sich am Kopf. Offenbar hatte sich viel verändert auf der Erde. Am besten, es sah sich das selbst an.
Und noch ehe Gabriel es aufhalten konnte, flog es schon hinunter. Mitten in ein Einkaufszentrum. An einem Samstag. Vor Weihnachten. Wie es da blitzte und blinkte und strahlte und dröhnte und schallte! Und die Menschen hetzten durch die Gegend, als gelte es ihr Leben. Ängstlich drückte sich das Christkind in eine Ecke. Ja, viel hatte sich geändert. Und da hinten, da sah es dann auch seinen Konkurrenten, den Weihnachtsmann, stand vor einem Geschäft und verteilte Luftballons. Moment, da drüben war ja noch einer! Und dort hinten auch! Wie sollten die Menschen sich bei all dem Trubel denn auf die wahre Botschaft von Weihnachten konzentrieren können? Selbst die letzten Relikte vom wahren Weihnachten, die kleinen Krippen mit ihren Figuren von Joseph und Maria und der ganzen Meschpoche, hatten blinkende Lichtlein und sich drehende Hirten und singende Engel.
Frustriert flog das Christkind zurück in den Himmel, wo Gabriel es bereits mit einer tröstenden Tasse Kakao erwartete.
An dem warmen, molligen Getränk nippend dachte das Christkind nach. Wie sollte es gegen all die Lichter, all den Lärm und all die Weihnachtsmänner ankommen? Vielleicht konnte es Gott um eine kleine Sintflut bitten? Nein, das war nicht seine Art. Aber ein allumfassender Stromausfall, das wäre was, dann könnten die Menschen wieder ihr eigenes Licht sehen und das Gottes. Doch Gabriel schüttelte den Kopf und deutete hinunter, auf all die Spitäler. Ja, das wollte es auch nicht. Außerdem würde ein Stromausfall wohl zu einer riesigen Panik führen. Vor lauter Aufregung, weil sie nicht ihre Online-Kalender checken konnten und das Tiefkühl mit der Weihnachtsgans abtaute, würden die Menschen sicher nicht in eine liebevolle Stimmung kommen, im Gegenteil, wahrscheinlich plünderte die eine Hälfte die Geschäfte und die andere verschanzte sich panisch im Haus, anstatt die Sterne zu betrachten.
”Ach Gabriel, es ist alles so kompliziert geworden. Ich bin doch nur ein kleines Kind.“
”Ja, aber die Menschen stehen auf kleine Kinder. Da vergessen sie manchmal glatt ihren Stress.“
Das war es. Mach aus einer Schwäche eine Stärke. Langsam reifte ein Plan. Ja, so könnte es gehen, langsam und friedlich, ohne Katastrophe.
Zuerst einmal musste aber dieses altmodische Outfit weg. Weiße Nachthemdchen waren nun wirklich nicht angesagt. Außerdem fror das Christkind in seinem Kleidchen jedes Jahr wie ein Schneider, das war also kein Opfer. Ach, wie herrlich, dicke Socken, Jeans, ein warmer Wollpullover. Das hätte es schon längst machen sollen!
Zufrieden stand es vor dem Spiegel. Nur die goldenen Löckchen, die wollte es nicht opfern. Waren sie doch seit dem letzten Fest endlich wieder gewachsen. Außerdem war mit der Frisur nicht offensichtlich, ob es ein Junge oder ein Mädchen war, so konnte jeder in ihm sehen, was er wollte.
Als es auf der Erde gelandet war, versteckte es seine Flügel unter dem dicken Pulli und – tat nichts. Nichts Besonderes. Es fuhr mit dem Autobus. Bummelte durch die Einkaufstraßen. Setzte sich in ein Kaffeehaus.
Doch es strahlte. Von innen heraus.
Und jeder, der es zufällig sah, der empfing sein Lächeln als Geschenk. Und dann war es demjenigen, als wäre die grelle Beleuchtung etwas sanfter, die laute Musik etwas ruhiger, die Eile etwas weniger dringend. Und derjenige konnte nicht anders, als ein warmes Gefühl in seinem Inneren zu fühlen und das Bedürfnis, ebenfalls zu lächeln und dieses Lächeln an andere weiterzuschenken.
Und als sich der Weihnachtsabend über die Welt senkte, da dröhnte und blinkte es zwar immer noch, doch die Menschen lächelten, vergaßen aufs Geschenke kaufen, weil sie sich lieber mit der Verkäuferin unterhielten oder mit ihren Kindern spielten, und blickten hinauf zu den Sternen am Himmel statt zu jenen der Straßenbeleuchtung.
Wenn euch also ein Kind anlächelt, dann bedenkt, es könnte das Christkind sein, das euch sein Lächeln schenkt, damit ihr es weitergebt.
(MW)
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